"Wir sind alle Individuen!"
"Ich nicht!"

Vielen von Euch wird es vermutlich ähnlich gehen: Das Umfeld, in dem ich mich bewege, hat zu großen Teilen Schwierigkeiten sich in dieser Welt zurecht zu finden. Selbstzweifel, Depressionen, Neurosen, Therapien sind vielen Freund*innen und Bekannten nicht fremd. Ich habe einen Teil meines "zu Hauses" vor über 30 Jahren im Punk(rock) gefunden, wo sich mir ein Ventil aufgetan hat und ich feststellen durfte, dass ich mit meinem "anders sein" längst nicht alleine bin. Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm waren der Regelfall.

Im Laufe der Jahre taten sich Schnittstellen auf, wo ich ebenfalls auf Menschen traf, für die diese Gesellschaft nur wenig Nischen bereit hält. Und so traf ich im Laufe der Zeit auf viele tolle Menschen, habe aber auch viele im Laufe der Jahre wieder aus den Augen verloren, weil auch das ein Teil meiner Neurodivergenz* ist (soziale Kontakte pflegen).

Eine dieser Schnittstellen ist der FC Sankt Pauli mit seinen Werten, seinen Ansprüchen und (Teilen seiner) Fans. Meine Bezugsgruppen überschneiden sich - was nicht verwunderlich ist - hier auch häufig mit meinem Punkrock-Background.

Soweit so ok. Aber warum jetzt dieser Artikel in diesem Blog?

Aus zwei Gründen: Zum einen ist dieser Blog hier im Laufe der Zeit zu einer Art Selbsttherapie geworden. Bereits in den "Spielberichten" schreibe ich immer mal wieder über meine Psyche, meine Neurodivergenz und trete damit auch ein bisschen die oft zitierte "Flucht nach vorne" an. Wo Mancheine*r daraus resultierende Angriffspunkte sieht, sehe ich das Gegenteil: Mit meinem offenen Umgang verhindere ich (teilweise), dass ich in Schubladen gesteckt werde, wo ich mich nicht sehe. Durch den Kontext, in den ich meine Handlungen und Verhaltensweisen stelle und dadurch, dass ich inzwischen Erklärungen dafür habe, kann ich präventiv teils unpassende Reaktionen meines irritierten Umfeldes verhindern. Ob ich am Ende auf Verständnis stoße, steht auf einem anderen Blatt. Ich weiß nur zu gut, dass es alles andere als leicht ist, Menschen die irgendwie "anders ticken" als man selber, zu verstehen und ihr Verhalten ohne (Fehl)einordnung zu akzeptieren (damit meine ich kein explizites Arschlochverhalten, sondern Verhalten und Empfindungen, die konträr zu den eigenen stehen oder zumindest stark abweichen, aber trotzdem niemanden schaden). Ich schöpfe - so zumindest mein aktuelles Empfinden - die mir verfügbaren Optionen aus, die ich habe, um Ablehnungen und Fehlinterpretationen entgegen zu wirken. Das klappt natürlich nicht immer, aber - so meine bisherige Erfahrung - häufig. Nicht selten höre ich Reaktion wie "danke, dass Du so offen damit umgehst, so kann ich das auch eindordnen".

Interessant dabei ist, dass ich nach all den Jahren erst während der abgelaufenen Saison erkannt habe, wo überhaupt mein Hauptproblemfeld liegt. Wer diesen Blog hier regelmäßig liest, ist das möglicherweise aufgefallen. Für mich persönlich mindestens genau so interessant ist, dass das Wort "Hochsensibel" in meinen zurückliegenden Therapien nie gefallen ist.

Der zweite Grund für diesen Artikel ist, dass ich damit vielleicht Menschen, denen es ähnlich geht wie mir, etwas Hilfestellung leisten kann: Zu sehen, dass mensch doch nicht alleine ist, ist meistens gut. Die eigenen Gedanken und Probleme etwas eingeordnet zu bekommen, ebenfalls. Seitdem ich weiß, dass viele meiner Probleme/Sorgen/etc. eng mit der bei mir vorhandenen Hochsensibilität verknüpft sind, öffnen sich mir wichtige Optionen: Ich kann mich reinlesen, ich kann mich damit auseinandersetzen, ich kann mich mit publizierten konkreten Hilfestellungen befassen. Das Bewusstsein für diese Erkenntnis mag erstmal schmerzhaft sein und fühlt sich nach "Erstverschlimmerung" an, aber ich bin mir sicher, dass sich das im Laufe der Zeit ändern wird. Wenn Handlungsoptionen erst einmal greifen, können die negativen Aspekte im Laufe der Zeit sicher mit der einen oder anderen Strategie deutlich erträglicher werden.

"Hochsensibilität": Das klang für mich irgendwie zunächst einmal arrogant, nach was "besserem". Sensibler zu sein, als die anderen. Und auch wenn das zutreffend ist, ist damit eben keine Wertigkeit gemeint. Hochsensibilität gehört zu den Neurodivergenzen und betrifft 15-20% (teilweise findet mensch sogar Schätzungen von bis zu 30%) aller Menschen und generell aller Lebewesen (yes, nichtmenschliche Tiere sind auch betroffen). Das heißt nicht, dass es die "besseren" Menschen (und sonstige Lebewesen) sind.

Hochsensibilität wirkt sich bei allen Betroffenen anders aus, selbst wenn im Fragebogen die selben Fragen mit JA beantwortet wurden. Ich werde im späteren Verlauf noch darauf eingehen, doch zunächst zu besagtem Test: Die amerikanische Psychologin Elaine Aron war eine der ersten, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat und ihr Fragebogen gilt als einer der anerkanntesten Grundlagen. Ihr findet ihn HIER. Wenn Ihr von diesen 27 Fragen mindestens 14 mit JA beantwortet, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Ihr eine "Highly Sensitive Person" (HSP) seid. Wie stark die Abweichungen von Betroffenen sind, wird bereits hier deutlich: Diese (mindestens) 14 von 27 Zustimmungen können von Person zu Person stark abweichen. Und selbst ich, der 24 mal mit JA antworten musste, zeige längst nicht alle Merkmale, die andere Betroffene zeigen. Beispiel: Während es für viele Betroffen unmöglich ist zu arbeiten, während das Radio läuft, kann ich mich mit dieser Berieselung besser konzentrieren. Nur sobald Menschen in meiner Nähe sind, wird es - das haben viele gemeinsam - schwierig. Zum Glück habe ich das Privileg (bis auf einen Tag im Monat) meinen Beruf im Homeoffice bei weitgehend flexiblen Arbeitszeiten ausüben zu können. Aktuell wäre es für mich vermutlich auch gar nicht anders möglich, der Lohnabhängigkeit zu frönen.

Viel Theorie bis jetzt. Zeit, es etwas greifbarer zu machen. Und damit diese Zeilen hier auch endlich ihre Daseinsberechtigung in diesem Blog erhalten, bemühe ich mich um Bezug zum primären Zweck und stelle den Kontext zum Fansein her. Und somit zurück zur Überschrift: "Neurodivergenz meets FCSP: Hochsensibel!"

"Unseren 6,6 km entfernten Pennplatz erreichen wir, aus Gründen, die den regelmäßig Lesenden geläufig sind, zu Fuß. In den knapp 80 Minuten schaffe ich es natürlich trotzdem nicht so wirklich runterzukommen. Und während andere es ganz sicher noch locker schaffen, die Nacht durchzufeiern, falle ich völlig reizüberflutet in die Koje."
11.05.25, SGE vs. FCSP

Als ich noch meine vegane Kneipe hatte, sagte unser Koch mal zu mir (etwas vorwurfsvoll): "Du überlässt auch nichts dem Zufall!" Wie recht er doch hatte. Im Zuge meiner Hochsensibilität handele ich automatisch vorausdenkend. Das ist nicht immer feierlich, denn dazu gehört in meinem Fall auch, alle Eventualitäten in mein Handeln einzubeziehen und bloß keinen Fehler zu machen. Unser Fanclub kann ein Lied davon singen, wenn es um die Anreise zu Spielen geht. Ich beschäftige mich da schon immer weit vor den Spielen mit, betrachte alle (Anreise-)Optionen, sehe manches gar als Bedrohung und als Ergebnis kommt dann meistens dabei raus, dass wir viel zu früh da sind und ich im Vorfeld für andere sehr anstrengend bin. Trotz dieser Erkenntnis bin ich davon nicht abzubringen. Denn schließlich könnte das, was ich da an Eventualität einberechne, ausgerechnet dann eintreffen, wenn ich sie dann doch mal vernachlässigen würde.

Wer baut so einen abscheulichen Hochsicherheitsscheiss, der Mensch mit gewissen Phobien (...) vor große Probleme stellt? May be für die meisten unter uns eine Nebensächlichkeit, weil easy durchzustehen. Ich hingegen war wegen der Enge, verbunden mit den hohen Ringsrumgittern und entsprechender Steh-/Wartezeit kurz vor einer Panikattacke.
08.03.25, Wolfsburg vs. FCSP

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist für mich dabei auch, dass ich Menschenmassen und vor allem das Stehen und Warten in Schlangen kaum aushalten kann. Ich werde da unfassbar unruhig und bin häufig nah an Panikattacken. Verstärkend hinzu kommt, dass ich als hochsensibler Mensch viele Reize nicht filtern kann. Paradebeispiel: Ich unterhalte mich in einer Menschenmasse. Während Nicht-Hochsensible Menschen sich auf die sprechende Person konzentrieren und die anderen weitgehend und ganz automatisch ausblenden kann, kann ich genau das (häufig) nicht. Alle sind gleich laut, ich nehme alle wahr. Manchmal kann ich es filtern, da passiert es einfach, aber das sind dann Momente, wo ich schon sehr entspannt sein muss. Doch gerade in solchen engen Situationen versagt diese Reizfilterung im Regelfall. Es prasselt dann alles noch stärker auf mich ein und alles verstärkt sich gegenseitig. Es ist wie ein Strudel, in den ich immer tiefer reingezogen werde.

Ich sollte in dem Zusammenhang vielleicht einmal kurz erwähnen, dass hochsensible Menschen in zwei Kategorien zu fassen sind:

Die einen haben gar kein Problem damit, sich zurück zu ziehen, alleine zu Hause zu sein und verspüren überhaupt keinen Drang, sich in viele Situationen zu begeben, wo sie an ihre Grenzen stoßen würden. Manchmal muss es natürlich doch sein, wenn z.B. Praxisbesuche oder auch nur das Einkaufen - je nach Ausprägung - zur Herausforderung werden. Denn letztendlich bedeutet Hochsensibilität primär eine verstärkte Wahrnehmung und eine häufig ungefilterte Verarbeitung von Reizen. Viele Reize, die hochsensible Menschen wahrnehmen und überfordern, nehmen andere Menschen gar nicht erst oder nur kaum wahr.

Ein Beispiel: Wenn nicht hochsensible Menschen durch eine stark besuchte Innenstadt gehen, ist es vielleicht hier und da mal nervig, wenn mensch ausweichen muss. Ich hingegen "scanne" nahezu jeden einzelnen Menschen. Ich nehme alle Personen, die mir begegnen wahr, teilweise interpretiere ich Empfindungen in diese hinein. Das schreibe ich bewusst so, denn während uns hochsensiblen Menschen eine hohe Empathie bescheinigt wird, ist nicht jeder Sinneseindruck hinsichtlich anderer Menschen passend/richtig. Das ist zwar sehr häufig der Fall, aber manchmal interpretieren wir auch fehlerhaft. Das Anstrengende ist jedoch, dass wir (nicht alle, aber ich z.B. sehr stark) überhaupt sehr viel wahrnehmen und automatisch versuchen zu interpretieren. Zum Glück passiert mir das auch nicht immer, aber häufig und es ist (bisher?) nicht steuerbar.

Ich weiß gar nicht genau, ob es damit primär zusammenhängt, aber besagte Schlangen an den Eingängen und ein Stehplatz sind für mich derzeit kaum zu ertragen. Ich brauche meine Sicherheit (so sehr es auch knirscht, wenn ich dieses Wort eintippe), ich brauche meinen festen Platz. Das klingt fast schon ein Stück autistisch. Allerdings sprechen bei mir auch viele andere Faktoren dagegen, dass ich von Autismus betroffen bin (ich würde z.B. am liebsten jeden zweiten Tag die Wohnung komplett umräumen, weil ich immer irgendwo "Optimierungsbedarf" sehe).

Wenn wir das mal auf Auswärtsspiele, wo (verständlicherweise) häufig bei den (offiziellen) Sitzplätzen hin- und hergeschoben wird, damit Bezugsgruppen zusammen stehen können: Ich kann erst dann halbwegs entspannt dem Spiel entgegen sehen, wenn ich möglichst früh am Eingang stehe (Schlange vermeiden), unseren Fanclub-Lappen aufgehängt und meinen festen Platz gesichert habe. Das klingt fürchterlich spießig und genauso fühle ich mich dann auch. Aber es ist - und alleine deswegen bin ich schon froh, dass ich das inzwischen weiß - Teil meiner Hochsensibilität.

Ach ja, fast hätte ich es vergessen und wahrscheinlich ahnt ihr es auch schon: Die zweite Gruppe der Hochsensiblen. Das sind diejenigen, die eben nicht darauf klar kommen, ein komplett zurückgezogenes Leben zu führen. Die den Drang verspüren, sich trotzdem "dem da draußen" auszusetzen, die auf Konzerte wollen und in die Stadien. Und dazu gehöre ich. Das tut mir alles gar nicht gut. Häufig merke ich das schon während oder sogar noch vor der Unternehmung. Manchmal schaffe ich es aber auch über weite Strecken gewisse Trigger auszublenden und erst zu Hause zusammen zu sacken. Der nächste Tag ist dann auch ohne Alkohol oft "Kater pur" für mich. An Aktivitäten ist dann gar nicht zu denken.

Das Spiel beobachte ich hochemotional. Manchmal spiele ich, wie manche*r Trainer*in am Spielfeldrand, gefühlt ein bisschen mit. Mein Fuß zuckt, ich merke, wie ich bei Flanken ein Stück in die Knie gehe, damit ich mit Niko zusammen hoch springen kann, um den Knicker wegzufausten. Zum Glück kann ich bei mir die letzten Bewegungsabläufe verhindern und es bleibt bei den ersten Körperreaktionen, die Außenstehenden kaum auffallen. Ich supporte wo es geht, aber manchmal geht es auch gar nicht, weil ich ganz tief im Spiel drinstecke. Dann der Schlusspfiff und dann der nächste Stress: Wie komme ich hier weg? Volle Shuttlebusse, Bahnen etc. mit (für mich) teils extrem anstrengenden Menschen. Alkoholgetränkt, anstrengende/triggernde Gespräche, Enge, ich kann das nicht. Ich bin so froh, wenn Stadien nicht am Arsch der Heide liegen, so dass wir irgendwie zu Fuß zurück kommen. Ich bin S. so unbeschreiblich dankbar, dass sie all das mit mir mitmacht und dazu gehört auch schon mal 8km nach dem Spiel zurück zu unserer Unterkunft zu laufen. Denn ohne Unterkunft ist es eben auch schwierig, denn so ein Tag zerrt unheimlich an meinen Energien und dann noch nach Hause fahren wäre ein "on top", das schwer zu greifen ist. Die Reserven sind auf dem Nullpunkt, ich brauche erst einmal Erholung. 

Andere gehen nach Spielen noch feiern, doch für mich ist der Ofen aus. Ich habe sämtliche Kapazitäten aufgebraucht. Mehr als das. Ich habe bereits die Kapazitäten für den nächsten Tag mit genutzt.

Mit Schlusspfiff springen sämtliche Stadionbesucher*innen (zumindest bei uns im Block, vermutlich aber überall) innerhalb einer Zehntelsekunde hoch und gehen schnellen Schrittes Richtung Ausgang. Wir machen das tatsächlich auch (was ich bei FCSP-Spielen niemals tun würde), weil meine Phobien und Hochsensibilität eh schon die ganze Zeit eine dunkle Wolke mit dem Wort "Abreise" über meinem Kopf gezaubert haben. Draußen rennen dann Menschenmassen aus beiden Richtungen wild umher und wir machen zwangsläufig mit. (...) dann heißt es erstmal stehen in der Menschenmasse, wo es kein vor und auch kein zurück mehr gibt. Ich hasse das!

Zum Glück verstehe ich hier niemanden, denn die teils grausamen Gespräche in Fußballfanmassen tun häufig noch ein übriges zu meinem Unwohlsein bei. Ich schaffe es immerhin ohne Panikattacke hier raus (...) Es werden immer so viele Personen durch die Gitter gelassen, wie in einen Zug passen. (...) mit geschlossenen Augen stehe ich möglichst flach atmend im Zug um nach 3 Haltestellen endlich rausgelassen zu werden.
Es ist schon krass, was mensch sich trotz aller bewussten persönlichen psychischen Hürden so aufhalst, weil die Vorlieben dann doch irgendwie Überhand gewinnen und die Momente des Genießens die entscheidenden sind. Meine Erschöpfung ist allerdings entsprechend und es dauert eine Weile, bis mein Kopf sich in unserer Unterkunft aus den Stützen der Hände wieder herausbewegt.
27.12.24, Brighton & Hove Albion vs. Brentford FC

Dabei habe ich schon viel zurück geschraubt. Früher habe ich pro Jahr über 100 Konzerte besucht und sogar zu jedem einzelnen einen Bericht geschrieben. Auffallend war schon immer, dass ich häufig bereits weit vor Ende der Gigs nach Hause bin. Nicht selten habe ich sogar die letzte Band verpasst. Ich habe das Jahre lang auf den Alkohol geschoben, der mir - damals unbewusst - geholfen hat, überhaupt mit den Situationen klar zu kommen. Ich dachte, dass ich dann halt deswegen irgendwann nicht mehr konnte. Heute bin ich mir sicher, dass der Grund ein anderer war. Der Alkohol half mir zwar, gewisse Trigger auszublenden (viele Menschen, viele Gespräche, hohe Lautstärke etc.). Doch der Grund für mein regelmäßiges vorzeitiges "Pommes holen" (ein Running Gag, nachdem irgendwer mal, auf die Frage, wo ich sei, scherzhaft geantwortet hat: "Pommes holen!") war schlichtweg, dass meine Kapazitäten auf Grund der ganzen Reize schlichtweg erschöpft waren.

Hach ja, die Abreise. Ich hasse das. Immer wieder aufs Neue. Gerade diese Stadien am Arsch der Heide sorgen bei mir regelmäßig für "leichte" Anspannung nach Schlusspfiff. Zwar fuhren alle 5 Minuten (lt. BMG-Homepage) Shuttlebusse zum Hauptbahnhof und zum Stadtteilbahnhof Rheydt, doch als ich die Menschenmasse schon sehe, ist mir klar, dass mich da keine 10 Sumo-Ringer reinkriegen. Mein Hirn prognostizierte mir eine Stundenlange Wartezeit in einem Pulk von Menschen, fürchterliche Gespräche, schwer zu ertragende Sprüche, Enge, Scheiße. Die Panik ist nicht weit. Also entschlossen wir uns die gut 5km in die Mönchengladbacher City zurück zu laufen, so spät ist es ja noch nicht. Da GPS aber leider nicht unser Freund ist, ging es dabei zunächst in drei falsche Himmelrichtungen, immer so 500 Meter oder mehr, bis wir irgendwann die richtige Richtung anpeilen konnten.
24.11.24, BMG vs. FCSP

Meine Konzertbesuche habe ich arg zurück geschraubt, nochmal ein ganzes Stück mehr, seit ich mir meiner Hochsensibilität bewusst bin. Vielleicht ist es auch ein Stück altersbedingt. Doch die FCSP-Spiele, home and away, will ich mir - sofern es eben geht - nicht nehmen lassen. Der Preis dafür ist oft hoch. Sowohl psychisch, als auch finanziell. Denn bei Freund*innen zu übernachten geht nicht. Trotz aller Angebote. Auch das ist ein Teil meiner Neurodiversität. Ich fühle mich in anderen Wohnungen unwohl. Ich nehme mir lieber irgendwo eine Absteige, denn ich muss immer die Option haben, mich der Situation entziehen zu können. Das kann ich in einer Kneipe, das kann ich bei einem Konzert und das könnte ich auch im Stadion (was auf Grund der großen Emotionen, die eine Ausnahmesituation darstellen, bisher zum Glück noch nie der Fall war). Außerdem brauche ich mein eigenes Klo, aber das nur am Rande. ;) 

Neurodivergenz bedeutet, von der gesellschaftlichen Norm neurologisch abzuweichen. In meinem Fall bedeutet es auch, dass es ganz viele Dinge gibt, die die meisten total toll finden, die ich jedoch überhaupt nicht mag. Dafür Verständnis zu erwarten, ist häufig utopisch. Jahre lang habe ich Ausreden gesucht, wenn Freund*innen mich eingeladen haben: "Ich koch für uns und dann gehen wir zum Konzert." "Wir machen Party bei uns, du bist herzlich eingeladen." Ich bin mir nicht sicher, ob das alles meiner Hochsensibilität geschuldet ist oder auch andere Neurodivergenzen mit reinspielen, aber vieles davon ist mir ein Graus. Ich mag es nicht, mich bei Freund*innen in deren Wohnung zu treffen, so sehr ich sie auch mag. Ich lehne Einladungen immer ab. In der Vergangenheit häufig mit Ausreden (denen ich vermutlich häufig selber geglaubt habe), inzwischen aber mit Seelenstriptease: "Es tut mir leid, aber ich kann das nicht. Es macht mir schlichtweg keinen Spaß. Für mich ist das sogar eine Belastung, das ist Teil meiner Neurodivergenz."

Ich mag auch den Sommer nicht. Ich häng nicht in Parks ab. Temperaturen über 22 Grad sind mir ein Graus. Doch immerhin schaffe ich es zunehmend, mich gewissen Herausforderungen zu stellen. Situationen, wo ich mir nicht 100%ig sicher bin, ob ich sie mag oder nicht. Wo ich irgendwie neutral bin, mich aber häufig der Respekt vor der Situation bisher davon abgehalten hat. Mit meinem offenen Umgang, in dem ich betone, dass es passieren kann, dass ich mich jeder Zeit der Situation entziehe und mich (teils unabgemeldet) verpisse, steigen auch die Chancen, dass ich mir mehr zutraue. Die anderen wissen Bescheid, wenn ich mich verpisse, wissen sie warum. Sie interpretieren da nichts rein, z.B. dass ich sie doch nicht so mag. Das nimmt einiges an Druck vom Kessel. Und es eröffnet mir auch Chancen vielleicht doch hier und da Situationen zu genießen, denen ich bisher aus dem Weg gegangen bin.

Denn für mich ist es auch wichtig, dass ich mich nicht komplett zurück ziehe. Ich bin eh nicht gut darin, soziale Kontakte zu pflegen, vielleicht ist das auch Teil meiner Hochsensibilität. Weil ich denke, dass andere erwarten, dass man sich in (un)regelmäßigen Abständen treffen muss. Und das, wo ich häufig gar nicht dazu in der Lage bin.

Ich bin auch sehr wählerisch, was Freundschaften angeht. Ich bin leicht zu triggern, leicht aus der Ruhe zu bringen. Ich komme auf andere Meinung gut klar (mit klaren Grenzen, klaro!), aber wenn ein gewisser Punkt erreicht ist, kann das ganz schnell umschlagen bei mir. Ein vorsichtiger Umgang miteinander ist mir (vielleicht teils unterbewusst) wichtig. Aber bloß nicht zu vorsichtig, denn ich kann - ganz ambivalent - auch häufig über einen gewissen zynischen Humor lachen oder ihn selber in die Runde werfen. Ja, es ist kompliziert mit mir.

Ein weiterer Trigger ist, wenn jemand irgendwas von mir erwartet. Umso mehr, wenn ich gerade beschäftigt bin und mich irgendwer irgendwas fragt oder eine Nachricht reinkommt, kann mich das total aus der Ruhe bringen und nahe der Verzweiflung. Auch typisch für hochsensible Menschen.

Was mir im Zuge meiner Erkenntnis ebenfalls ein Stück weit gelungen ist, ist nicht nur, mein eigenes Verhalten besser einordnen zu können, sondern auch das anderer Menschen, inklusive meines direkten Umfeldes. Wie oft habe ich Menschen als egoistisch etc. kategorisiert. Heute weiß ich, dass die von mir so gelabelten Verhaltensweisen häufig dem geschuldet sind, dass ca. 80% der Menschheit diese für mich selbstverständliche, automatisierte Voraussicht nicht teilen. Es fällt mir dabei noch immer schwer zu differenzieren: Wann ist ein Verhalten tatsächlich dem geschuldet, dass die Person eben nicht hochsensibel ist (was, um es nochmal zu betonen, vollkommen ok ist und nichts schlechtes)? Dass das Verhalten also eher mit schuldloser Gedankenlosigkeit einher geht. Und wann habe ich es tatsächlich mit Arschlochverhalten zu tun, z.B. weil eine Handlung aus purem Eigennutz und einhergehender bewusster Rücksichtslosigkeit zusammen hängt?

Es ist irgendwie schwer zu erklären, aber ich bin im Grunde ein Leben lang davon ausgegangen, dass die allermeisten Menschen auf einem halbwegs gleichen Wahrnehmungslevel sind und ihr Verhalten von mir so eingeordnet werden kann, wie ich selber Situationen empfinde. Heute weiß ich, dass das nicht der Fall ist und meine Wahrnehmung und mein Empfinden für Reize von denen der meisten anderen Menschen teilweise stark abweicht. Das macht es alles andere als leichter, das Verhalten anderer zu beurteilen, schafft aber auch mehr Verständnis. Im Zuge dieser Ungewissheit vermutlich manchmal auch zu "zu viel" Verständnis. Tricky!

Der Saison 2025/26 sehe ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Zurückblickend waren 2024/25 viele Situationen dabei, die mich an meine Grenzen gebracht haben. Aber es waren eben auch super viele schöne Momente. Ich habe viele Leute lieb gewonnen, die ich teils erst in der abgelaufenen Spielzeit kennen gelernt habe. Auch wenn ich ja nicht gerade erst seit gestern zu unseren Spiele fahre: So viele neue Menschen wie in der letzten Saison habe ich dabei noch nie kennen gelernt. Und das, wo es mir ja eigentlich so schwer fällt. Viele Bekanntschaften sind natürlich oberflächlich, manche sind intensiver geworden und manche oberflächliche sind dabei, wo ich mir denke, dass sie gerne intensiver werden könnten. Aber bloß nicht zu intensiv. Also vielleicht besser doch nicht. Ihr wisst ja.

Ich denke fürs erste sollte das auch reichen. Sollte ich meine Berichterstattung auch 2025/26 fortsetzen (ich bin mir da noch nicht so sicher), wird das Thema "Hochsensibilität" sicher auch wieder eine Rolle spielen. Da meine Berichte eh im stark Ichbezogenen Egozinestyle geschrieben sind, ist das ja schon zwangsläufig der Fall.

Forza und kommt gut durch die Sommerpause!

Literaturempfehlung: "Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen." von Elaine Aron.

*Neurodivergenz ist ein Begriff, der Menschen mit neurologischen Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm beschreibt, die oft als "neurotypisch" bezeichnet wird. Es ist keine Krankheit oder Behinderung, sondern eine Beschreibung verschiedener neurologischer Funktionen. Neurodivergenz umfasst eine Vielzahl von Zuständen, darunter Autismus, ADHS, Dyslexie, Dyskalkulie und andere.

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